Wirtschaftswende Ost

Ein Geschichtsprojekt über die ostdeutsche Wirtschaft in den Wendejahren 1989 bis 1994




Im Gespräch mit... Dr. Hubert Lerche (damals BASF Schwarzheide)

"Verstecken brauchten wir uns nicht"

(2. Teil des bearbeiteten Zeitzeugengesprächs | Den 1. Teil finden Sie hier. Das komplette und vollständig transkribierte Interview findet sich hier als .pdf-Datei (0,7 MB).)



WW-Ost: Welche Firmen waren das? Und warum fiel die Entscheidung zugunsten der BASF?

HL: Das waren neben BASF noch Bayer und Dow Chemical. Aber Dr. Jeschke und wir waren uns rasch einig, dass es eines der beiden deutschen Unternehmen sein sollte. Und dass es dann relativ schnell die BASF wurde, lag wohl letztendlich am persönlichen Verhältnis. Es menschelte eben irgendwo doch. Dr. Jeschke und Dr. Minsinger, der bei der BASF den Polyurethan-Bereich geführt hat, die beiden kannten sich von den Messen her und hatten offensichtlich einen guten zwischenmenschlichen Draht, einen vertrauensvollen Draht. Im Juni 1990 war dann mehr oder weniger klar, dass die BASF nach Schwarzheide kommt. Es fehlten nur noch die Unterschriften. Aber die mussten aus juristischen Gründen bis zur tatsächlichen Wiedervereinigung am 3. Oktober warten.

WW-Ost: Die Unterschriften wurden dann am 25. Oktober 1990 bei der Treuhand geleistet?

HL: Ja. Vorher wäre es da aber beinahe noch schief gegangen. Der BASF-Vorstandsvorsitzende Dr. Strube war mit Dr. Minsinger wenige Tage nach der Wiedervereinigung, vielleicht am 10. Oktober – das genaue Datum weiß ich jetzt nicht mehr, schon einmal in Berlin. Dort hat man die beiden aber eineinhalb Stunden warten lassen, bis Strube gesagt hat: "Das war es. Komm, wir gehen". Auf dem Rückweg hat Minsinger ihn dann überzeugt, noch einen weiteren Versuch zur Vertragsunterzeichnung zu unternehmen. Sonst wäre es schon erledigt gewesen. Man lässt eben einen Vorstandsvorsitzenden der BASF nicht einfach sitzen. Das macht man nicht. Na, die waren wohl noch nicht so arbeitsfähig, wie sich das für eine vernünftige Behörde gehört. Mit Terminvergabe und der nötigen Sensibilität, wer steht jetzt da draußen. Da haben ja wahrscheinlich Hunderte gewartet, die da einen Termin hatten.

WW-Ost: Kann man daraus vielleicht auch ableiten, dass diese Bereitschaft der BASF, im Osten zu investieren, auch von anderen Faktoren abhing? Als möglicher Standort konkurrierte die DDR ja letztlich auch mit anderen Regionen.

HL: Also die BASF hat immer gesagt, es gibt drei Gründe, warum sie nach Schwarzheide gegangen ist. Zum Ersten aus dem nationalen Bewusstsein heraus, helfen zu müssen. Zum Zweiten fehlte ihr, im Gegensatz zu Bayer und auch zu Dow, eine TDI-Produktion in Europa. TDI ist eine große Komponente des Polyurethan-Kunststoffes, den die BASF damals nur in den USA hergestellt und dann über den Teich geholt hat. Von der Seite her hat das sehr gut gepasst. Zudem bekam die BASF für ihre TDI- und MDI-Produktion Zugriff auf unserer Düsenverfahren im Reaktor. Das war eine bessere Technik als die bislang von ihr genutzten Rührkesselkaskaden. Das hat sie auch interessiert. Und zum Dritten hat sie natürlich der Markt interessiert. Als alleinige Polyurethanhersteller im Ostblock kannten wir ja den gesamten Ostmarkt dafür. Also von Russland über Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Polen.

WW-Ost: Wie haben sich denn die Marktbeziehungen in den bisherigen Ostblock nach 1990 weiter gestaltet?

HL: Es war schon die Idee, diese Beziehungen zu erhalten – das ist bloß nicht eingetreten. Es wollte halt keiner mehr einen Wolga kaufen oder einen Kühlschrank aus Minsk mit unseren Polyurethanprodukten drin. Bis Ende 1991 war schon der gesamte russische Markt tot. Die hatten keine Valuta und dann ist bei denen ja auch die ganze Umwälzung gekommen. Ukraine, Belorussland, die baltischen Republiken, die haben sich alle selbstständig gemacht und waren wirtschaftlich erst einmal so ein bisschen obsolet. Und den anderen Volkswirtschaften im Osten, ob Ungarn, Tschechien, Bulgarien oder Rumänien, fehlte einfach die Marktgröße und die Kaufkraft. Also wir sind dann mit den Produktionszahlen nach unten gegangen, so schnell konnten wir gar nicht gucken. Und das hieß auch, dass wir eigentlich zu viele Leute hatten.

WW-Ost: Wie hat man darauf reagiert?

HL: Es war klar, dass nur mit Polyurethan der Standort nicht zu halten ist. Und da hat dann die BASF ab 1992 alle geplanten Investitionsprojekte daraufhin überprüft, ob sie nicht nach Schwarzheide verlegt werden können. Und so ist zum Beispiel die Wasserbasislackfabrik, die schon für Würzburg genehmigt war, in Schwarzheide gebaut worden. Die nächsten Investitionen waren die beiden Schaumstoffanlagen für Styrodur und Neopolen.

WW-Ost: Lassen Sie uns noch mal auf 1990 zurückkommen. Wie war da die Stimmung in der Belegschaft? War damals auch angesichts des einbrechenden Ostmarktes schon klar, dass wahrscheinlich nicht alle von der BASF übernommen werden?

HL: Es gab sehr viel Unsicherheit. Auch ein gewisses Gerangel, um sich irgendwo auch in Position zu bringen. Es ging ja schon vorher los. Wir wurden umfirmiert und nannten uns Synthesewerks AG, nicht mehr VEB Synthesewerk. AG hieß, die können sich selbst organisieren, selbst bestimmen. Und dann sind gleich 1990, na ich denke bestimmt 500 bis 600 Mann entlassen worden – die auch schon immer weg mussten. Das war so.

WW-Ost: Die Leute wurden also schon entlassen, noch bevor die BASF tatsächlich eingestiegen ist?

HL: Ja, noch davor. Mit der Wende waren wir, glaube ich, so 5.600 Beschäftigte. Also auch mit allen sonstigen Unternehmensbereichen wie dem Kindergarten oder Leichtbau Bernsdorf. Als die BASF kam, waren wir nur noch reichlich 4.500. Und von denen mussten dann noch mal rund 2.000 gehen.

WW-Ost: Können Sie Reduzierung der Mitarbeiterzahlen noch etwas konkretisieren?

HL: Also zum einen wurde alles ausgegliedert, was nicht zum Kerngeschäft zählte. Wir hatten ja Gerüstbauer, Isolierer, Maurer. Da brauchte man in der DDR in so einem Werk eigene Kapazitäten, sonst ging gar nichts. Die BASF brachte dann eine ganze Reihe von Unternehmern aus Ludwigshafen und Lemförde mit nach Schwarzheide. So nach dem Motto: Wer hätte Interesse, die Bauleistungen, die Klempnerleistungen oder auch die Tischlerleistungen zu übernehmen? Als Anreiz gab es die Zusage, sämtliche Aufträge der BASF in diesen Gewerken für die nächsten zwölf bis maximal 18 Monate exklusiv zu bekommen. Sozusagen als Starthilfe, um Fuß zu fassen. Und das hat recht gut geklappt. Da sind cirka 1.000 Mitarbeiter aus dem Werk gegangen. Zum anderen traf es natürlich die 55-Jährigen, die heimgeschickt wurden. Das war schon ein mächtiger Aderlass hinsichtlich des Know-hows. Das waren vielleicht auch noch mal so 800 und der Rest ist dann aber auch entlassen worden. Also etwa ein Drittel ausgegliedert, ein Drittel in Früh- oder Vorruhestand und ein Drittel entlassen, so in etwa kann man sagen. Und dann waren wir noch 2.500.

WW-Ost: Wie sah es mit Qualifizierungsmaßnahmen aus? Wurden Mitarbeiter beispielsweise nach Ludwigshafen geschickt, um sich da weiterzubilden?

HL: Ja, das gab es. Sogenannte Anpassungsqualifizierungen, die waren gut und wichtig, auch angesichts der geplanten weiteren Produktionsverlagerungen nach Schwarzheide. Es machte ja wenig Sinn, die später dafür benötigten Leute erst freizusetzen. Die wurden daher für ein halbes oder ein Dreivierteljahr nach Ludwigshafen, Münster oder auch nach Würzburg delegiert, mitfinanziert über die Arbeitsämter. Und da sind viele mit technischen Berufen, aber auch Anlagenfahrer oder Chemikanten, auf neue Systeme qualifiziert und so sozusagen auch über die Zeit gerettet worden.

WW-Ost: Da wir jetzt schon über die neuen Produktionen für Schwarzheide gesprochen haben: Was waren denn damals die großen Investitionsprojekte abgesehen davon? Wie sah es beispielsweise mit der Bodensanierung aus?

HL: Also bereits in der D-Mark-Eröffnungsbilanz waren Investitionen für unterlassene Instandhaltung und Abriss vorgesehen, beispielsweise zur Sanierung der Polyurethananlagen, des Wasserwerkes, der kompletten Rohrbrücke oder für die Beseitigung nicht mehr benötigter Anlagen und Gebäude. 1995 oder 1996 wurde das alte Braunkohlekraftwerk still gelegt. Stattdessen versorgten nun zwei Gasturbinen das Werk mit Strom und der notwendigen thermischen Energie. So ein Chemiewerk braucht ja eben Dampf. Investiert wurde auch kräftig in die sogenannte Werkleitplanung. Ein gut strukturiertes Werk ist aufgeteilt in Blockfelder, die man auf Straßen immer umfahren kann. In diesem Blockfeld gibt es dann eine erdverlegte Infrastruktur, beispielsweise für Kühl-, Frisch- und Abwasser oder auch Glasleiter. Das ist komplett neu gemacht worden. Wenn da ein Gebäude irgendwo im Weg stand, wurde das eben auch mit weggerissen. Die Altlastensanierung wurde dagegen über den Bund finanziert. Das war die einzige Bedingung, die die BASF bei der Treuhand gestellt hatte. Sie wollte von den Altlasten freigestellt werden, sonst könne man das Risiko nicht kalkulieren.

WW-Ost: Wenn man sich heute den Standort anschaut, so ist da ja ein ziemlicher Cluster entstanden mit ziemlich vielfältigen Unternehmen.

HL: Ja, da kann man sagen. Seit 1998 gibt es ja die Ansiedlungsinitiative, weil man einfach festgestellt hat, dass die BASF diesen Standort mit ihren Investitionen nicht alleine füllen kann. Dafür ist einfach der Markt hier in der Region und Richtung Osten nicht da. Da sind jetzt 15, 16 oder 17 weitere Firmen, die sich hier mittlerweile angesiedelt haben. Wir waren ja mal 2.500 Mitarbeiter bei der BASF – jetzt sind es vielleicht noch 1.700 – aber auch mit den 2.500 und den Rahmenvertragsfirmen drum herum waren wir 3.500 Mann. Heute gibt es noch immer rund 3.000 Arbeitsplätze in Schwarzheide, sogar mit einer leicht wachsender Tendenz. Verantwortlich dafür ist nicht allein die BASF, sondern es sind auch die Drittfirmen. Und das ist gut so.

WW-Ost: Das ist doch ein gutes Schlusswort. Herr Dr. Lerche, wir danken Ihnen für Ihre Zeit und die interessanten Ausführungen.

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