Wirtschaftswende Ost

Ein Geschichtsprojekt über die ostdeutsche Wirtschaft in den Wendejahren 1989 bis 1994




Im Gespräch mit...

Dr. Hubert Lerche (damals BASF Schwarzheide)

Hubert Lerche – Wirtschaftsinitiative Lausitz Dr. Hubert Lerche (Bild: Wirtschaftsinitiative Lausitz e.V.)
In unserem zweiten Zeitzeugen-Interview sprachen wir mit Dr. Hubert Lerche. Ab 1975 arbeitete er im VEB Synthesewerk Schwarzheide – der "Perle der Ost-Chemie", ab 1982 als Abteilungsleiter Technische Diagnostik. Nach der Übernahme des Werkes durch die BASF AG im Oktober 1990 war er bis 2012 in verschiedenen Positionen für den Chemiekonzern tätig. Seit Mai 2012 kümmert er sich als Geschäftsführer der Wirtschaftsinitiative Lausitz e.V. um die Stärkung des Wirtschaftsstandortes Lausitz.

Neben der Entwicklungsgeschichte des Synthesewerkes geht es im Interview mit Dr. Lerche unter anderem um die Gründe für das BASF-Engagement in Schwarzheide, den Wert eines "vertrauensvollen, zwischenmenschlichen Drahtes", die zweigeteilte Stimmung in der Belegschaft im Wendejahr, das rasche Wegbrechen der osteuropäischen Märkte sowie die Bedeutung der Ansiedlungsinitiative für den Standort.

Datum des Gesprächs: 3. Dezember 2014
Dauer des Gesprächs: 81 Minuten
Stichworte: Chemieindustrie | Treuhand | BASF | Brandenburg | osteuropäische Märkte

Das komplette und vollständig transkribierte Interview findet sich hier als .pdf-Datei (0,7 MB). Eine gekürzte und redigierte Zusammenfassung des Interviews können Sie nachstehend lesen.




"Verstecken brauchten wir uns nicht"

Wirtschaftswende Ost (WW-Ost): Herr Dr. Lerche, können Sie zum Beginn kurz etwas zur Vorgeschichte des VEB Synthesewerk Schwarzheide sagen? Sozusagen zur besseren Einordnung der späteren Entwicklung.

Synthesewerk Schwarzheide - Erdölverarbeitung Erdölverarbeitung in Schwarzheide (1963) Bundesarchiv, Bild 183-B0924-0006-001 / Großmann, Werner / Lizenz: CC-BY-SA (via Wikimedia))
Dr. Hubert Lerche (HL): Das Werk wurde 1935 als BRABAB AG, Braunkohle-Benzin AG, gegründet. Bis Ende der 1960er Jahre wurden hier mittels Fischer-Tropsch-Prozess aus Braunkohle Vergaserkraftstoffe hergestellt – was sich aber letztlich als kein wirtschaftlicher Weg erwies. So kam es zu einer großen Neuorientierung und das Synthesewerk wurde auserkoren für die Polyurethanproduktion. Kurz nach dem Kauf der dafür notwendigen Produktionslizenzen im westlichen Ausland gab es von den dortigen Isocyanat-Herstellern ein Technologieembargo gegen den Ostblock. So blieben wir die Einzigen im Osten, die TDI, MDI und die Polyole dazu, also sprich Hartschaum und Weichschaum auf Polyurethanbasis, hergestellt haben. Das bedingte auch die enormen Leistungssteigerungen. Die Anlage war ja ursprünglich gebaut worden für eine Produktion von 70.000 Jahrestonnen. Zur Wende waren wir bei 145.000 Jahrestonnen.

WW-Ost: Und wie war denn die wirtschaftliche Situation im VEB zum Ende der 1980er Jahre?

HL: Es gab da so einen Spruch, gerade in Richtung Ende der 1980er, dass der Fahrtwind immer stärker wird – bei der Talfahrt. Und dafür gab es damals schon viele Anzeichen. So wurden etwa die Wartezeiten für Materiallieferungen immer länger, egal was es war. Als ich 1975 eingestiegen bin, da waren noch Vertragsstrafen üblich. Die gab es dann nicht mehr, wurde alles abgeschafft. Zwischen sozialistischen Betrieben braucht man keine Vertragsstrafen, hieß es. Aber das war Mangel, das hat man schon gemerkt. Ohne großen Rückenwind, etwa mit einer Politbürobeschlussnummer, war manches nicht mehr zu kriegen. In der Technischen Diagnostik brauchten wir beispielsweise Messinstrumente, die es so nur im westlichen Ausland gab. Doch um sie bestellen zu können, benötigten wir immer erst ein sogenanntes Negativattest.

WW-Ost: Also ein Nachweis, dass im Ostblock nichts Vergleiches zu beschaffen war?

HL: Genau. Aber da war man dann eben sehr, sage ich mal, kreativ. Einmal wollten wir beispielsweise X-Y-Schreiber bei Brüel&Kjær aus Dänemark kaufen, so A4 mit Filzstift oben rein, der dann leicht ansteuerbar ist. Dafür bekamen wir aber kein Negativattest, denn so etwas wurde auch in der DDR hergestellt – allerdings fast ausschließlich für den militärischen Komplex. Formal war das Gerät also verfügbar, bekommen hat man es aber trotzdem nicht. Bei der Messe in Leipzig waren wir dann bei Brüel&Kjær und haben denen gesagt "Wir machen jetzt eine Bestellung. Nur dass Sie sich nicht wundern, die Bestellnummer stimmt, aber es steht nicht X-Y-Schreiber da, sondern 2-Ebenen-Auswerteeinheit". Denn dafür hatten wir ein Negativattest. Da wusste niemand, was es ist.

WW-Ost: Das glaubt man gern. Aber lassen Sie uns einen zeitlichen Sprung machen in das Jahr 1989, in den Sommer 1989. Wie war denn damals die Stimmung im Werk. Man hört von den Botschaftsflüchtlingen, vom Durchbruch an der ungarisch-österreichischen Grenze...

HL: Also da ist natürlich sehr viel Unruhe gewesen. Es fehlte dann auch der eine oder andere. Es ist aber auch so, das kann man vielleicht so sagen, dass Schwarzheide nicht so direkt am Puls der Zeit dran war wie manche der Großstädte. Gut erinnern kann ich mich noch an den 11. November, zwei Tage nach der Grenzöffnung. Für eine Veranstaltung an dem Tag, es war ein Samstag, hatten wir vom Schwarzheider Karnevalsclub im Vorfeld 1.500 Karten verkauft. Anwesend waren am Abend nur 400 Leute. Die anderen waren alle in Berlin. Auf der Autobahn gab es einen langen Stau in Richtung Berlin. An der Autobahnabfahrt Ruhland kam man schon nicht mehr rauf.

WW-Ost: Und können Sie sich noch erinnern, wie die Stimmung zu dieser Zeit unter den Mitarbeitern im Werk war?

HL: Die Stimmung war durchaus zweigeteilt. Zum einen "Ja, endlich" und "Jetzt geht es los" und zum anderen die, die etwas vorsichtiger ran gegangen sind. So nach dem Motto "Wer weiß, was das alles bringt". Klar gab es eine gewisse Euphorie bei vielen, vor allem bei den jungen Leuten. Die Älteren waren doch ein bisschen abwartender. Und es gab ja durchaus auch zu dem Zeitpunkt, auch so bis ins Frühjahr 1990 rein, eine sehr starke Gruppe, die gesagt hat "Ja, Sozialismus kann schon bleiben, das müssen wir bloß anders machen". Der Vereinigungsgedanke war am Anfang nicht da, muss man ganz ehrlich sagen. Sondern "jetzt können wir endlich mal Strukturen aufbauen, die uns effizienter machen" und "was die können, können wir schon lange". Verstecken brauchten wir uns ja auch nicht mit dem Polyurethan.

WW-Ost: Man war sich also durchaus bewusst, wie der technische Stand in der Bundesrepublik war und wie man selber im Vergleich dazu stand?

HL: Ja. Es gab eine ganze Reihe an Kontakten, also auch zu Bayer, zu BASF. Man hat gegenseitige Kongresse besucht und so. Das war ja nicht so, dass man da wirklich abgeschirmt war. Also das wussten wir schon und wir wussten auch, dass wir mit unseren Produkten auf dem Markt durch-aus Chancen hatten. Zudem hatten wir ja zahlreiche neue und moderne Anlagen, die zu dem Zeitpunkt maximal 18 Jahre alt waren. Für eine Chemieanlage, die 50 Jahre und länger steht, ist das kein Alter. Das Synthesewerk in Schwarzheide hieß auch nicht umsonst "die Perle der DDR-Chemie". Es gab daher 1990 weniger die Sorge, dass das Werk zugemacht wird und wir alle arbeitslos werden. Aber uns war schon bewusst, dass wir bei der Produktentwicklung, beim Marketing oder der Preisgestaltung Schwächen hatten und es da alleine nicht schaffen werden.

WW-Ost: Daher hat man dann den Kontakt zur BASF gesucht? Wie kam das zustande?

HL: Es gab da so eine selbst ernannte Gruppe – es war ja alles selbst ernannt in diesen Tagen – von insgesamt acht Leuten aus allen verschiedenen Organisationen innerhalb der Firma. Also von der Technik, Forschung, Produktion, Energie und so weiter, da war ich auch mit dabei. Und wir haben dann das Gespräch zum damaligen Generaldirektor Dr. Jeschke gesucht. Wir wollten nicht, dass er allein irgendwelche Entscheidungen trifft – und das wollte er auch nicht. Er hat uns dann informiert, dass er mit drei Unternehmen in Gesprächen sei und uns auch gefragt, welches wir davon präferieren würden?

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